Case Study Krisenkommunikation: Lehren aus einem hausgemachten Shitstorm

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Der Fall der Schweizer Politikerin Sanija Ameti liefert eine bedenkliche Case Study zur Dynamik im Zeitalter von Shitstorms und Cancel Culture, Zusätzlich befeuert vom persönlichen politischen und beruflichen Umfeld entsteht ein Flächenbrand, bei dem jede Verhältnismässigkeit verloren geht. Betroffene verlieren im Affekt das Augenmass, selbst klassische Medien kippen von einem Extrem ins nächste, Es ist ein Beispiel, bei dem besonnenes Vorgehen und professionelle Krisenkommunikation von allen Seiten die Situation deeskalieren könnte.

Ich analysiere an dieser Stelle nur selten aktuelle Fälle. Dieser hier würde bereits nach wenigen Tagen Stoff für ein Lehrbuch liefern. Er bewegt derzeit die Schweizer Medien überdurchschnittlich. Es zeigt sich der brandgefährliche Teufelskreis eines «Shitstorms», den verschiedenste Akteure, selbst Polit- und PR-Profis, reflexartig zusätzlich befeuern. Zumal Entrüstungssturm samt Konsequenzen vermeidbar gewesen wäre – im Ursprung und ebenso bei den Fortsetzungen. Das Fazit, bildlich gesprochen: Etliche Beteiligten schiessen im Affekt übers Ziel hinaus, anstatt überlegt auf Deeskalation abzuzielen. Klammer: Der Fall bietet Raum für zahlreiche Nebendiskurse, die an dieser Stelle bewusst weggelassen werden. Hingegen bietet er Einblick in unglaublich belastende Situationen für die betroffenen Menschen und Organisationen. Situationen die sich im aktuellen Kontext nicht mit einer simplen Entschuldigung und Kurzschlussreaktionen bewältigen lassen.

Provokative Selbstinszenierung als Initialzündung

Selbstinszenierung und Provokation. Dies sind Zutaten, um heute medial gehört und gehypt zu werden, Klicks und Aufmerksamkeit generieren. Diese Form der Exponierung ist immer riskant. Denn die Fallhöhe steigt. Und mit ihr ein möglicher harter Aufprall: Bumerang, modern Backlash. Mit ihrem Schützen-Post hat Sanija Ameti den Bogen überspannt und genau dies ausgelöst. Dessen hätte sie sich mit ihrer Erfahrung (Kommunikationsberaterin, Doktorandin der Rechtswissenschaften, Politikerin) bewusst sein müssen. Die beiden ersten Fehltritte: Erstens die mutmasslichen Schüsse auf das Bild einer Mutter mit Kind, ein christliches Motiv dazu. Und zweitens: Das Ganze fotografieren zu lassen und anschliessend als Selbstinszenierung auf Instagram zu publizieren. Später unterlaufen ihr gravierende Folgefehler: Das Medium «Blick» fragt an, Sanija Ameti löscht den Beitrag auf Instagram und publiziert eine erste Entschuldigung (Link erster Beitrag Blick.ch). Zu spät: Die Screenshots des zerschossenen Bildes werden fortan weltweit die Runde machen. Sie sind ein gefundenes Fressen, besonders für politische und ideologische Gegner. Diese lassen auf Social Media, wie die Schützin ursprünglich selbst, jedes Augenmass und Sensibilität vermissen.

Oberflächliche Entschuldigung reicht nicht

Entscheidend zum weiteren dramatischen Verlauf der Krise in den relevanten Medien sind allerdings die Folgeschritte, angefangen bei den kurzen Stellungnahmen von Sanija Ameti auf Instagram und X (Twitter). Es handelt sich zwar um eine Entschuldigung. Doch diese ist ungenügend. Seither herrscht Funkstille. Inhaltlich wirken die Statements rechtfertigend und unglaubwürdig. Sie lassen sich als «faule Ausreden» interpretieren. Geholfen hätten stattdessen erstens: Eine ehrliche, nachvollziehbare Erklärung für die unentschuldbare Handlung. Und zweitens aufrichtiges Problembewusstsein, Empathie und konkrete Lehren, die sie zu ziehen gedenkt. Das hätte den Raum für Spekulationen minimiert. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, wirksame Krisenkommunikation bestehe aus einer Entschuldigung. Solche Fälle erfordern sichtbare Handlung und Worte, konsistent und konsequent. Das eine Amt aufgeben, am anderen festhalten? Inkonsequent. Empathie und Learnings? Weder ersichtlich noch spürbar. Das erhöht die Angriffsfläche und verlängert die Krise, schadet der Glaubwürdigkeit und erschwert ein späteres Comeback.

Die ungenügende Reaktion nach dem eigentlichen Fehlverhalten – auf Handlungs- und Kommunikationsebene – bildete die Basis für einen Shitstorm seltenen Ausmasses. In der Folge trug das persönliche Umfeld von Sanija Ameti wesentlich dazu bei, dass sich ein unkontrollierter Flächenbrand ausbreitete. Die Reaktionen entsprechen typischen menschlichen Reflexen im Affekt, die Stresssituationen auslösen.

Partei: Von liberal keine Spur

Angefangen bei der GLP. Sanija Ameti vertritt die Grünliberale Partei im Gemeinderat Zürich (Stadtparlament mit 125 Mitgliedern). Noch am Montag publizierte die Schweizer Mutterpartei GLP Schweiz eine Medienmitteilung, Titel: Die GLP Schweiz startet ein Ausschlussverfahren gegen Sanija Ameti. Ob sie damit die Partei-Reputation tatsächlich maximal schützt? Wird der Schritt an der Basis und in der breiten Öffentlichkeit als adäquat wahrgenommen? Auf den ersten Blick erscheint die Massnahme rasch und konsequent, was aus Sicht Krisenkommunikation grundsätzlich nachvollziehbar ist. Allerdings werden innerhalb der GLP öffentlich unterschiedliche Haltungen vertreten. Klare Distanzierung, ja, da sind sich alle einig. Bezüglich der Konsequenzen erscheint die GLP indes als uneinig und inkonsistent. Die Folge: Das Krisenmanagement der GLP wirkt verwirrend, uneinheitlich, ungenügend. Logisch: Idealerweise hätte sich Sanija Ameti mindestens temporär selbst zurückgezogen, um ihre Partei zu schützen. Eine taktisch klug genutzte Auszeit hätte vermutlich ausgereicht.

Die GLP Schweiz hätte selbst Alternativen gehabt, Beispiel:

(1) Eine sofortige klare Verurteilung und Distanzierung
(2) Vorübergehende Suspendierung von allen Parteiämtern
(3) Gespräche mit Sanija Ameti, klare Verhaltensvorgaben vereinbaren
(4) Sanija Ameti Unterstützung bei der persönlichen Bewältigung der Krise zusichern
(5) Nach Erfüllung / Nichterfüllung der Vorgaben über den Verbleib oder Ausschluss entscheiden

In dieser Art hätte die GLP einerseits liberale Haltung sowie eine Fehler- und Lernkultur gezeigt. Andererseits hätte die Partei sich Zeit, Raum und Flexibilität zur professionellen Krisenbewältigung verschafft. Ruhe bewahren, Schnellschüsse vermeiden und Lageübersicht verschaffen. Es hätte vorerst vom Druck entlastet und gleichzeitig die Möglichkeit geboten, eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Relevanz, die Stimmung in der Basis und der breiten öffentlichen Wahrnehmung zu erhalten – sowie am Ende eine adäquate Lösung zu finden. Stattdessen droht die GLP nun mit Fortsetzungsstories unkontrolliert zum öffentlichen Spielball zu werden. Ihr droht dadurch ein noch grösserer Reputationsschaden als Sanija Ameti.

Arbeitgeber: Windfahne statt Krisenmanagement

Man verzeihe dem Schreibenden den kritischen Blick auf die eigene Branche. Ähnliches wie für die GLP trifft auf den Arbeitgeber von Sanija Ameti zu. Die Farner Consulting AG ist nicht irgendeine PR-Agentur, sondern gemäss Swiss Leading Agencies die grösste in der Schweiz (Umsatz CHF 40 – 50 Mio.). Entsprechend ist sie selbst exponiert. “Team Farner”, wie sich die Agentur präsentiert, stellte sich am Montagmorgen zunächst hinter ihre Mitarbeiterin. Am Nachmittag folgte die Kehrwende hin zur Trennung: «Wir sind heute Morgen zu dem Schluss gekommen, das Arbeitsverhältnis mit Sanija Ameti zu beenden. Wir sind im Gespräch mit ihr», sagte der Co-CEO gegenüber dem Branchenportal persoenlich.com. “Job weg” zieht sich fortan weiter durch alle Medien. Auf der Website der Agentur findet sich nirgends eine offizielle Information. So hinterlässt Farner den Eindruck, unter dem zunehmenden medialen Getöse reflexartig zu handeln. Vermeintliche Schadensbegrenzung, duck und weg. Als Aushängeschild geholte Mitarbeiterin im Sturm vor die Tür gestellt. Das ist für eine Agentur, die unter vielem anderem auch Krisenkommunikation anbietet, erstaunlich. Sie müsste eine derartige Krise strategisch geschickter nutzen, etwa zur souveränen und kompetenten Positionierung. Klar, Druck und Belastung sind hoch. Das ist belastend. Und Sanija Ameti kann nach dem deplatzierten Instagram-Post vorderhand sicher nicht in der direkten Kundenberatung eingesetzt werden. Das wäre unzumutbar für alle Seiten und unglaubwürdig. Aus dieser Innensicht ist die Trennung nachvollziehbar und konsequent. Doch wie wirkt sie auf aktuelle und eventuell künftige Mitarbeitende und Kunden? Wo bleibt die Fehler- und Lernkultur, die Unterstützung und Fürsorge für Mitarbeitende in einer ausserordentlichen Situation? Fehlanzeige bei Gegenwind. Es gäbe Potenzial, souveräner vorzugehen.

Die mögliche Alternative für die PR-Agentur (Achtung, Copy/Paste):
(1) Eine sofortige klare Verurteilung und Distanzierung
(2) Vorübergehende Freistellung (und zwar zum Schutz der Mitarbeiterin und des Unternehmens)
(3) Gespräche mit Sanija Ameti führen, Auszeit und klare Verhaltensvorgaben vereinbaren
(4) Sanja Ameti Unterstützung bei der persönlichen Bewältigung der Krise anbieten
(5) Nach eingehender Analyse der Situation und der Fortschritte entscheiden, ob eine Weiterbeschäftigung sinnvoll und möglich ist
(6) Problembewusste und lösungsorientierte Learnings kommunizieren

Damit hätte die PR-Agentur verschiedene Ziele auf einmal erreichen können: Klare Haltung zeigen. Den Code of Conduct und hohe Erwartungen an die Mitarbeitenden erläutern. Zeit und Flexibilität gewinnen im Krisenmanagement, eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Relevanz und öffentlichen Wahrnehmung erhalten. Besonnenheit in kritischen Situationen und unter Druck demonstrieren. Und zugleich Fürsorge (“Care”) und Chancen für Mitarbeitende aufzeigen, die einen schwerwiegenden Fehler begangen haben. Vorausgesetzt, Sanija Ameti ist trotz der inzwischen enormen psychischen Belastung in der Lage, glaubwürdige Lehren zu ziehen, besteht mittelfristig eine reale Chance für einen Neuanfang. Politisch wie beruflich: Die einmalige Shitstorm-Erfahrung könnte in Zukunft wertvoll sein. (vgl. Analyse unseres digitalen Kommunikationsberaters Crisly).

Operation Libero: Kontrapunkt mit grossen Risiken

Die Bewegung Operation Libero setzt einen Gegenpol. Sie stärkt in einem Statement ihrer Co-Präsidentin den Rücken. Das ist ein mutiger Kontrapunkt, Allerdings fasst Operation Libero einzig nochmals das Fehlverhalten, die Einsicht und Entschuldigung zusammen. Das dürfte nicht reichen, um den Schaden zu minimieren. Es entsteht der Eindruck, Operation Libero wolle die Krise mit einem kurzen Statement aussitzen. Das dürfte nicht genügen. Operation Libero bleibt deshalb angreifbar und stark belastet. Sie gefährdet damit das Weiterbestehen des Co-Präsidiums in dieser Form. Was Operation Libero als Minimalvariante helfen würde: Darlegen, welche nachvollziehbaren, handlungsgestützten Lehren die Co-Präsidentin und die Führung ziehen wollen. Und aufzeigen, welche Massnahmen konkret sie hierzu gemeinsam anpacken.

Medien: Von einem Extrem ins andere

Zum Schluss ein kurzes Wort zu den Medien. Für sie gab und gibt es angesichts der vielschichtigen Problematik – und den oben genannten Brandbeschleunigern – kein Halten mehr. Jede Verhältnismässigkeit geht verloren. Vermeintliche Interessen, Klicks und Kommentare sowie Äusserungen in der “X-Bubble” stehen über der Relevanz. Am Morgen des dritten Shitstorm-Tags (Mittwoch, 11.9.2024) zählt die Schweizer Mediendatenbank mehr als 420 Beiträge. Das sind selten viele. Die Story zieht und bewegt emotional. Wobei die Medien im Sturm offenbar selbst die Orientierung verlieren. Beispiel Tages-Anzeiger am 10. September 2024: «Kommentar zum Fall Sanija Ameti: Dreister als die Politik erlaubt» (Abo). Tages-Anzeiger am Tag darauf: «Anatomie eines Shitstorms: Die Zerstörung der Sanija Ameti» (Abo). Für Sanija Ameti wurden die Geister, die sie gerufen hat, zum selbstverschuldeten Albtraum. Derweil scheint einzelnen Medien die forcierte Dynamik selbst nicht mehr geheuer zu sein. Was wie so Vieles ein bisschen scheinheilig wirkt. Vorteil für Sanija Ameti: Unterstützt durch die reflexartigen Überreaktionen von GLP, Arbeitgeber und Medien könnte ihr zunehmend eine Opferrolle anhaften.

Die ungenügende Reaktion – auf Handlungs- und Kommunikationsebene – nach dem eigenen Fehltritt legte die Basis für einen Shitstorm seltenen Ausmasses. In der Folge trug ausgerechnet das persönliche Umfeld von Sanija Ameti wesentlich dazu bei, dass ein unkontrollierter Flächenbrand entstehen konnte. Vermeintliche Schadensbegrenzung, duck und weg. Besonnene Krisenkommunikation böte wirksamere Alternativen. Der Fall bietet Einblick in unglaublich belastende Situationen für die betroffenen Menschen und Organisationen, die sich nicht mit einer simplen Entschuldigung und Kurzschlussreaktionen bewältigen lassen.
— Roland Binz
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